25.2.1

25.2 Ausgewählte Krankheitsbilder bei Kindern und Jugendlichen.

25.2.1 Aggressionen

 Aggressive Verhaltensweisen bei Kindern und Jugendlichen sind in den letzten Jahren immer stärker in den Blickpunkt psychotherapeutischer, psychiatrischer, pflegerischer, aber auch sozial- und heilpädagogischer Aufmerksamkeit gerückt. Unter dem Eindruck zunehmender Gewalt bzw. Gewaltbereitschaft v.a. bei Jugendlichen werden Konzepte zur Behandlung und Prävention von aggressivem Verhalten entwickelt und erprobt. Diese Sichtweise betont die klinisch relevante, weniger die „normale“, zeitlich begrenzte, entwicklungsbedingte Verhaltens­dimension aggressiven Verhaltens. Diagnostische Abgrenzung und Einordnung von störungsrelevanten und gesunden Verhaltensäußerungen und daraus abgeleitete Behandlungs- und Interventionsansätze sind daher gleichermaßen wichtig.

Scheithauer & Petermann (2002) beschreiben nach Eron (1997) aggressive Verhaltensweisen als auf jemanden ausgerichtet, um diesen indirekt oder direkt zu schädigen. Aggressives Verhalten kann aber auch personenunabhängig gegen Sachen und Objekte gerichtet sein, um diese zu beschädigen und/oder sie ihrer Funktion zu berauben. Sowohl personen- als auch sachorientierte aggressive Affekte und Verhaltensweisen besitzen eine intersubjektive und eine intrasubjektive Dimension. Wenn Raubüberfälle, Brandstiftung, Zerstörung fremden Eigentums, physische Gewalt, Verletzung sozialer Normen und Regeln, allg. delinquentes Verhalten als aggressive Verhaltensreaktionen bezeichnet werden (vgl. Stattin & Magnusson 1996), so wird hiermit vorwiegend die intersubjektive Dimension betont. Intrasubjektiv wird aggressives Verhalten dann bedeutsam, wenn selbstschädigendes, selbstverletzendes Verhalten bis hin zu Suizidalität vorliegt. In jedem Falle hat diagnostisch eine Unterscheidung von pathologisch aggressivem Verhalten zu normalem, „gesundem“ Verhalten stattzufinden, die auch berücksichtigt, dass Aggressivität auch eine häufige Begleiterscheinung entwicklungsbedingter Umbrüche sein kann (z.B. „Trotzköpfe“ und „Halbstarke“). Erst von einer Person über einen längeren Zeitraum immer wieder und/oder mit hoher Intensität praktizierte aggressive Verhaltensweisen deuten auf behandlungsrelevante pathologische Muster hin. Differentialdiagnostisch können unbeabsichtigte schädigende, impulsive, störende Verhaltensweisen aber auch eine hyperaktive Störung hinweisen (vgl. Kazdin 1995).

Betrachtet man die übersetzten lateinischen Wortbedeutungen, die im Wort „Aggression“ enthalten sind (aggredi – angreifen, in Angriff nehmen, darangehen; aggredior – sich an jemanden wenden; angreifen, anklagen; etwas unternehmen; aggressio – Anlauf, Angriff), so wird auch die gesunde, aktive, nicht schädigende Komponente aggressiven Verhaltens beleuchtet. In Aggressionen als Affekt und Verhalten ist ein Moment von Bereitstellung von Energien für Handlungen enthalten, das auf der entgegengesetzten Seite pathologisch relevant wird, nämlich dann, wenn Aggressionen fast völlig fehlen (z.B. Aggressionshemmungen bei Depressiven). Also erst ab einem bestimmten Ausmaß (in Häufigkeit und Intensität) kippt gerichtete (aggressive) Energie in schädigendes Verhalten, in Destruktivität. Diese Grenze zu pathologisch aggressivem Verhalten ist nicht absolut, sondern wird räumlich, zeitlich, gesellschaftlich stetig neu gezogen.

Die Äußerung aggressiven Verhaltens ist alters- und geschlechtsabhängig. Während Jungen eher direkte und physische Formen, Mädchen dagegen eher indirekte, verbale Formen aggressiven Verhaltens wählen, so zeigen Personen im Kindesalter vorwiegend oppositionelles und trotziges, Personen im Schul- und Jugendalter mehr bedrohendes, schlagendes und sozial-normverletzendes Verhalten. Jugendliche sind dann in Gleichaltrigengruppen nur wenig integriert und beziehen sich vorwiegend auf gleichgesinnte, soziale Normen verletzende Personen.

Klassifikation

Im Diagnostischen und Statistischen Manual Psychischer Störungen (DSM-IV) werden zwei Störungen aggressiven Verhaltens im Kindes- und Jugendalter unterschieden: die Störung des Sozialverhaltens und die Störung mit Oppositionellem Trotzverhalten. Auf der Symptomebene gehören zur Störung des Sozialverhaltens: aggressives Verhalten gegenüber Menschen und Tieren, Zerstörung von Eigentum, Betrug oder Diebstahl sowie schwere Regelverstöße. Bei der Störung mit Oppositionellem Trotzverhalten treten folgende Symptome auf: Die Person wird u.a. schnell ärgerlich, streitet sich häufig mit Erwachsenen, verärgert andere häufig absichtlich, ist häufig wütend und beleidigt, ist häufig boshaft und nachtragend. Bei der Störung des Sozialverhaltens liegen grundsätzliche Verletzungen der Rechte anderer vor sowie die Missachtung gesellschaftlicher Normen und Regeln. Bei der Störung mit Oppositionellem Trotzverhalten handelt es sich um weniger schwerwiegende Symptome und der Übergang zu normalem Trotzverhalten ist gleitend.

In der Internationalen Klassifikation Psychischer Störungen (ICD-10) werden sechs Typen der Störung des Sozialverhaltens unterschieden:

  1. Auf den familiären Rahmen beschränkte Störung des Sozialverhaltens
  2. Störung des Sozialverhaltens bei fehlenden sozialen Bindungen
  3. Störung des Sozialverhaltens bei vorhandenen sozialen Bindungen
  4. Störung des Sozialverhaltens mit oppositionellem, aufsässigem Verhalten
  5. Andere bzw. nicht näher bezeichnete Störung des Sozialverhaltens
  6. Kombinierte Störung des Sozialverhaltens und der Emotion

Ätiologie

Hypothetisches Entwicklungsmodell aggressiven und delinquenten Verhaltens

Scheithauer & Petermann (2002, modifiziert nach Loeber 1990) stellen den pathologischen, über den Lebenslauf stabilen Entwicklungspfad aggressiven und delinquenten Verhaltens hypothetisch als Stufenfolge dar, wobei auf jeder Entwicklungsstufe ein Beginn als auch eine Stagnation oder ein Ende dieses negativen Entwicklungsverlaufes möglich ist. Abb. 25.1 soll dies verdeutlichen.

Abb. 25.1 Hypothetische Entwicklungsstufen aggressiven Verhaltens (vereinfacht nach Scheithauer & Petermann 2002, modifiziert nach Loeber 1990)

Abb. 25.1 Hypothetische Entwicklungsstufen aggressiven Verhaltens (vereinfacht nach Scheithauer & Petermann 2002, modifiziert nach Loeber 1990)

Genetische Erklärungsansätze

Aufgrund der Heterogenität aggressiver Verhaltensweisen konnten molekulargenetische Studien keinen Nachweis isolierter genetischer Faktoren erbringen. Unzweifelhaft sind eine Reihe von neuromolekularen Erregungsmustern bei der Entwicklung von aggressivem Verhalten und einer Disposition zu impulsiven Aktivitätsmustern beteiligt. Insgesamt kann man sagen, dass genetisch-biologische Vulnerabilitäten die Wahrscheinlichkeit für das Auftreten aggressiver Verhaltensweisen erhöhen.

Lerntheoretische Erklärungsansätze

Lerntheoretische Erklärungsansätze gehen davon aus, dass aggressives und delinquentes Verhalten durch eine Reihe von Lernprozessen, die schon früh in der Kindheit beginnen, entwickelt und aufrecht erhalten werden. Vier grundsätzliche Lernmechanismen spielen dabei eine zentrale Rolle: Positive Verstärkung (ein Kind/Jugendlicher erreicht durch aggressives Verhalten einen gewünschten Gegenstand, eine gewünschte Belohnung und/oder Zuwendung), negative Verstärkung (ein Kind/Jugendlicher verhindert durch aggressives Verhalten, dass er sich unangenehmen Situationen und Ereignissen stellen muss), Duldung (dem aggressiven Verhalten des Kindes/Jugendlichen wird reaktionslos zugesehen, so dass es vom Kind/Jugendlichen als Zustimmung gewertet wird), Lernen am Modell (aggressives Verhalten wird durch vorbildartige andere Personen präsentiert und von den Kindern/Jugendlichen übernommen).

Diese Mechanismen regulieren den Lernprozess und das Aufrechterhalten von aggressiven Verhaltensreaktionen in der familiären Lernumgebung, z.B. durch den Faktor inkonsequentes Erziehungsverhalten, sowie in der direkten Eltern-Kind-Interaktion, z.B. durch unsicheres Bindungsverhalten, schließlich auch im weiteren sozialen Umfeld, z.B. Zurückweisung durch Gleichaltrige.

Psychodynamische Erklärungsansätze (Bindungstheorien)

Bei den psychodynamischen Erklärungsansätzen zur Entwicklung aggressiven Verhaltens kommen die Studien zum Bindungsverhalten zwischen Mutter bzw. Eltern und Kind (vgl. Bowlby 1969, Ainsworth 1978, van Ijzendoorn 1992) zu dem Ergebnis, dass unsicher-vermeidend, unsicher-ambivalent gebundene Kinder und desorganisiert Gebundene im größeren Ausmaß aggressive Verhaltensweisen zeigen als sicher gebundene Kinder. Die zentrale Aussage von Ainsworth, dass mütterliche Feinfühligkeit im ersten Lebensjahr über Bindungsmuster des Kleinkindes entscheidet, konnte allerdings nur teilweise bestätigt werden. Es besteht ein Zusammenhang zwischen mütterlicher Feinfühligkeit im ersten Lebensjahr und sicher gebundenen Kindern mit 12 Monaten. Es besteht auch ein Zusammenhang zwischen einem eher zurückweisenden Interaktionsstil und unsicher vermeidender Bindung bzw. einem inkonsequenten Interaktionsstil und unsicher-ambivalenter Bindung, der allerdings nicht so deutlich ausgeprägt ist (vgl. Dornes 2002).

Systemische Erklärungsansätze

Bei den systemischen Erklärungsansätzen wird davon ausgegangen, dass eine Reihe von familiären und sozialräumlichen Faktoren das Auftreten und Aufrechterhalten aggressiven Verhaltens begünstigen. Z.B. erhöhen körperliche und psychische Erkrankungen sowie dissoziales Verhalten der Eltern das Risiko für aggressives Verhalten der Kinder. Zudem können Konflikte der Eltern und Scheidung v.a. bis zum sechsten Lebensjahr das Auftreten von aggressivem Verhalten fördern. Insgesamt ist die mangelnde familiäre Unterstützung und Kompetenz ein Faktor, der aggressives Problemverhalten verstärkt (vgl. Scheithauer & Petermann 2002).

 

Behandlungsansätze

Präventionsansätze

Mit Präventionsprogrammen, die sich an werdende Mütter mit erhöhten Risikofaktoren (alleinstehend, jung) richten, konnten gute Erfolge erzielt werden. Ein weiteres Beispiel für ein erfolgreiches Präventionsangebot für Kinder in der Schuleingangsstufe ist das Verhaltenstraining für Schulanfänger (Petermann et al. 2002). In einem vierstufigen Programm werden den Kindern Verhaltensstrategien zur Steigerung der auditiven und visuellen Aufmerksamkeit, zur Steigerung emotionaler und sozial-emotionaler Kompetenzen (Aufbau prosozialen Verhaltens), zur Vermittlung sozialer Basiskompetenzen und angemessenen Problemlöseverhaltens angeboten. Diese werden geübt und in Rollenspielen gefestigt.

Multimodale Psychotherapieansätze

Es liegen eine Reihe von Psychotherapieansätzen vor, die auf unterschiedlichen Ebenen Interventionen anbieten: Soziales und kognitives Fertigkeits- und Problemlösetraining, Elterntraining, Familientherapie, Training mit aggressiven Kindern, Training mit aggressiven Jugendlichen in Einzel- und Gruppensitzungen und begleitenden Elternsitzungen. Als wirksam haben sich dabei multimodale Therapieansätze erwiesen, die unterschiedliche Umgebungsbedingungen (Schule, Elternhaus) und Personen (Eltern und Kind) umfassen.

Der Therapeut übernimmt beim Fertigkeits- und Problemlösetraining eine aktive Rolle beim Erkennen und Verstärken prosozialer Verhaltensweisen und dem Strukturieren begleitender kognitiver Prozesse, z.B. durch Lenkung von Selbstinstruktionen. Beim Elterntraining liegt ein Hauptbestandteil im genauen Erkennen der negativen Verhaltensweisen des Kindes, der Analyse der zentralen „Erpresserspiele“ in der Interaktion zwischen Eltern und Kind und im Erlernen effektiver Grenzsetzungen gegenüber dem Kind. Petermann & Petermann (2001 u. 2000) haben multimodale Trainings für aggressive Kinder und Jugendliche entwickelt, die folgende Standards enthalten: Durchführung einer Verhaltensanalyse zur Ermittlung der auslösenden und aufrechterhaltenden Bedingungen aggressiven Verhaltens, Auswahl der Trainingseinheiten nach einem Baukastensystem und Zuordnung zu den verschiedenen Interventionsebenen (Eltern, Kind, Familie), systematischer und gleichbleibender Aufbau der Trainingseinheiten, Einführung von Einstiegs- und Sitzungsritualen und Aufbau einer Hierarchie der Therapieziele.

Hinweise für Pflegepersonen beim Umgang mit aggressiven Kindern und Jugendlichen

Aggressive Kinder und Jugendliche provozieren. Sie verleiten die Betreuungspersonen dazu, je nach individuellen Bewältigungsstilen mehr überrascht und konsterniert zurück zu weichen oder unter Mobilisierung vielfältiger Energiereserven die Provokation zurück zu drängen. In starker Ausprägung sind beide Verhaltensreaktionen weder für das Kind oder den Jugendlichen noch für das Pflegepersonal hilfreich, weil eine Eskalationsspirale mit unterschiedlich dominanten Akteuren in Gang gesetzt wird. Wie ist ein Entkommen aus dieser Spirale möglich? Zwei Reaktionsprinzipien sollen genannt werden: Verlangsamung des Interaktionstempos (nicht unmittelbare verbale oder motorische Verhaltensreaktion) und Fokussierung der Interaktion  (Herausnehmen eines Auseinandersetzungaspektes und bei diesem bleiben). Daneben ist es stets wichtig, sich zu überlegen, was das Kind/der Jugendliche mit seinem Verhalten eigentlich zu erreichen versucht und ihm alternative Wege aufzeigen, die hinter dem aggressiven Verhalten liegen Ziele (z.B. Anerkennung in der Gruppe, Durchsetzung von Wünschen) zu erreichen.

Die Pflegekräfte sollen überlegt, konsequent und frühzeitig reagieren, damit ihr Erregungslevel möglichst nicht in schwerer zu regulierende Höhen gerät. Festigkeit und Gelassenheit im Umgang mit aggressiven Kindern und Jugendlichen zeigen zu können, erhöht die Glaubwürdigkeit des Betreuungs- und Behandlungspersonals und verstärkt die latente Bereitschaft der Betroffenen Stressbelastungen wieder abzubauen (Unterbrechen der Eskalationsspirale).