25.2.3

25.2.3 Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitäts-Störung (ADHS)

Bedeutung

Ein Störungsbereich, der in den letzten Jahren immer mehr an Beachtung gewonnen hat, ist der Bereich der Aufmerksamkeitsdefizit Störungen, vielfach begleitet von Hyperaktivität. Die betroffenen Kinder können sich schlecht für längere Zeit auf eine Sache konzentrieren, sind meist impulsiv und unruhig.

Mit zunehmendem Alter sind sie immer weniger in Gruppen Gleichaltriger integriert. In den Familien der Kinder, aber auch in Kindergärten und Schulen führt dies oft zu großen Problemen, da solche Kinder den betreuenden Personen erhebliche Schwierigkeiten bereiten. So ist es ungleich schwieriger, Gruppenaktivitäten zu gestalten oder eine anregende und ruhige Lernatmosphäre aufrecht zu erhalten.

Historischer Abriss der Konzeptentwicklung

Begonnen hat die Konzeptentwicklung zum Umkreis der ADHS bereits vor langer Zeit. Archetypisch wird hier häufig der „Zappelphilipp“ aus den Struwwelpeter-Bildergeschichten von Heinrich Hoffmann um 1845 genannt. Der Zappelphilipp kann nicht ruhig am Tisch sitzen, gehorcht nicht den Anweisungen der Eltern, kippelt mit dem Stuhl und fällt schließlich samt Stuhl, Tischdecke und Mittagessen der gesamten Familie um.

Die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Thema beginnt etwa mit dem 20. Jahrhundert. Im Jahre 1902 beschrieb der englische Kinderarzt George F. Still Kinder mit motorischer Unruhe, einer Beeinträchtigung der Aufmerksamkeit und aggressiven Ausbrüchen. Still vermutete angeborene Schädigungen, die er aber nicht nachweisen konnte. Später kam die Auffassung auf, die betroffenen Kinder litten unter einer leichten Hirnschädigung, hervorgerufen z.B. durch Sauerstoffmangel während der Geburt, der dann eine Funktionsbeeinträchtigung des Gehirns nach sich ziehen sollte. Diese Ansätze gruppieren sich um den Begriff leichte frühkindliche Hirnschädigung bzw. minimale Cerebralparese. Jedoch auch mit der Verfeinerung der zur Verfügung stehenden Methoden zur Untersuchung des Hirnaufbaus zeigten sich keine Hinweise auf morphologische Besonderheiten, die typisch wären für  Kinder mit ADHS.

Daraufhin wurde die Begrifflichkeit verändert. Es wurden nun keine morphologischen, sondern ähnlich wie bei endogenen Psychosen (Affektpsychosen und Schizophrenien), funktionelle Störungen des Gehirns angenommen. Diese wurden unter dem Begriff minimale cerebrale Dysfunktion (MCD) gefasst, der in Deutschland in den 70er Jahren aufkam und bis Ende der 80er Jahre Verwendung fand.

Aus den USA kommend wanderte in den 80er Jahren in Deutschland der Begriff der Hyperaktivität ein, der zunehmend die MCD ablöste. Das hyperkinetische Syndrom (HKS) legte nunmehr die Betonung auf die Unruhe, die viele Kinder mit Konzentrationsstörungen zeigen, gründete sich aber auf die im wesentlichen wieder gleiche Problematik. Nur dass nun nicht mehr frühkindliche Hirnschädigungen, sondern eine genetische Disposition, entweder allein oder in Verbindung mit einer Fehlernährung, verantwortlich gemacht wurde. Schon in den 70er Jahren wurde das Hyperaktivitäts-Konzept erweitert und letztlich durch den Begriff Aufmerksamkeitsdefizitstörung (ADS) mit und ohne Hyperaktivität ersetzt. Wobei die ADS mit Hyperaktivität, auch als ADHS bezeichnet, die weitaus größere Bedeutung hat.

Die ADHS ist gekennzeichnet durch folgende drei Störungsbereiche: Aufmerksamkeitsprobleme, mangelnde Impulskontrolle und gesteigerte motorische Unruhe. Hiermit häufig verbunden aber nicht notwendigerweise stets vorhanden sind Teilleistungsstörungen (z. B. Legasthenie), motorische Koordinationsstörungen (Feinmotorik, Gleichgewicht, etc.), unangemessenes Sozialverhalten (störendes Verhalten, Aggressivität, Opposition, mangelnde Regelbefolgung, Delinquenz) und emotionale Probleme (Stimmungsschwankungen, niedrige Frustrationstoleranz, Jähzorn).

Die Häufigkeit des Auftretens von ADHS nach dem DSM IV in der Bevölkerung wird in Studien überwiegend aus dem anglo-amerikanischen Raum mit Werten zwischen 4% und 26% angegeben. In Deutschland wurde bis Herbst 2004 im Rahmen des Kinder- und Jugendsurveys des Robert-Koch-Institutes ebenfalls eine großangelegte Prävalenzstudie durchgeführt. Diese ergab in einer ersten Schätzung einen oberen Grenzwert von 3,9%. Auffällig ist, dass es erhebliche Unterschiede bei Mädchen und Jungen gibt. So sind wesentlich mehr Jungen als Mädchen betroffen. Das Verhältnis wird bei verschiedenen Untersuchungen zwischen 3:1 und 9:1 angegeben (Siehe auch Gershon, 2002).

Genetische Hypothesen

In den 60er und 70er Jahren wurde der Glaube an die Formbarkeit des Individuums durch die Umwelt erheblich größer. Bis hin zu der extremen Vorstellung, der Mensch komme als „tabula rasa“ auf die Welt und werde zu dem, was er ist, allein durch seine Erfahrungen. Entsprechend suchte man auch für die zuvor als angeboren betrachteten Störungen und Defizite pädagogische und psychotherapeutische Behandlungsmöglichkeiten. Die Bedeutung der Pädagogik, der Psychologie und der Psychotherapie wuchs, sind sie doch Erklärungsrahmen und Interventionsinventar gleichermaßen und versprechen Hilfe bei Störungen der Aneignungsprozesse, der Affektivität oder des Verhaltens.

Diese veränderte Haltung schlug sich auch in der Suche nach Ursachen für die heute unter dem ADHS-Begriff zusammengefassten Störungen nieder. So sah man beispielsweise einen inkonsequenten, unsicheren Bindungsstil der Bezugspersonen als Ursache an. Reizüberflutung durch extensives Fernsehen und ein Mangel an „Primärerfahrung“, also dem direkten Umgang von Kindern mit der Natur, wurde gleichfalls als Quelle für die zunehmend mehr Beachtung findenden Probleme betrachtet. Für viele Eltern und Pflegepersonen ergaben sich hieraus schmerzhafte Gedanken über Schuld und Verantwortung, was zu einer Verunsicherung in der Beziehung zu den Kindern und Jugendlichen führte und umgekehrt die Kinder und Jugendlichen in eine Position der scheinbar gerechten Empörung über die Erziehungsfehler der Eltern brachte.

Im Zuge des konservativen Wertewandels, der sich Anfang der 80er Jahre in Politik und Gesellschaft ankündigte, traten psychosoziale Erklärungs­modelle wieder zugunsten von naturwissenschaftlichen in den Hintergrund. Anders als in den Jahrzehnten zuvor wurden die vorhandenen Unterschiede im Verhalten, seien es die zwischen Mann und Frau, hochintelligent und minderbegabt, psychisch krank und gesund zunehmend als unveränderlich, naturgegeben und genetisch disponiert betrachtet. Viele Male wurden genetische Marker für Schizophrenie und Depression gemeldet, doch die meisten dieser Befunde hielten einer Überprüfung nicht stand. Dennoch gibt es Belege genug, die dafür sprechen, dass ein Teil der Problematik erblich angelegt ist. So auch bei ADHS. Der gegenwärtige Stand der Forschung nimmt einen genetischen Anteil von 70 % bis zu 95% bei der Entstehung von ADHS an (Sherman et al. 1997, vergl. auch Ding et al. 2002). Doch ob diese Ergebnisse letztlich Bestand haben werden, und was sie eigentlich besagen, ist noch längst nicht abschließend geklärt.

Eine weitere Quelle möglicher Faktoren für die Entstehung von ADHS ist die Störung der Hirnentwicklung, durch Stress, Krankheiten, Alkohol, Nikotin oder medikamentöse Einflüsse während der Schwangerschaft. Durch diese schädigenden Einflüsse habe sich das Gehirn des Fötus nicht normal entwickeln können und weise daher die beobachteten funktionalen Defizite auf. Auch hier gibt es Hinweise, dass bei Auftreten dieser Faktoren, das Risiko der Kinder, an ADHS zu leiden, sich erhöht.

Schließlich gibt es nach wie vor Hypothesen einer psychogenen Entwicklung der Störung. Die eher tiefenpsychologisch orientierten Theoretiker gehen von einer Bindungsstörung zwischen Kind und ersten Beziehungspersonen aus, die eher verhaltenstherapeutisch orientierten Wissenschaftler postulieren, dass die Familie eines ADHS-Kindes eine Lernumgebung darstelle, die Unruhe, Aggressivität und regelverletzendes Verhalten verstärke.

Behandlungsansätze

Seit etwa 15 Jahren wird auch in Deutschland verstärkt Ritalin (Methylphenidat) verschrieben. Dabei handelt es sich um eine Substanz aus der Gruppe der Amphetamine, die in der Regel anregend und appetitreduzierend wirken.

Die Verschreibung von Ritalin bei ADHS geschah in der Vergangenheit oft durch Kinderärzte, denen die entsprechende psychiatrische oder psychotherapeutische Fachkenntnis fehlte. Die Diagnose ADHS wurde umso bereitwilliger gestellt, als die Gabe von Ritalin, die schwer zu kontrollierenden Kinder leichter handhabbar machte. Die oft damit verbundene Hoffnung, dass mit der Reduktion der Unruhe auch die Konzentrations- und Lernfähigkeit zunehmen würde, erfüllte sich aber nicht.

Da auch die Fähigkeit der Kinder, sozialen Kontakt zu Altersgenossen aufzunehmen hierdurch nicht steigt, sondern sie im Gegenteil eher zurückgezogener wirken, nützt die Gabe von Ritalin wohl letztlich mehr der Umwelt als den Kindern selbst. Hinzu kommt, dass die verabreichten Medikamente keine Heilwirkung haben, sondern lediglich die unerwünschte Hyperaktivität reduzieren, solange die Wirkung des Medikamentes anhält. Von Befürwortern der Ritalingabe wird das Medikament mit Insulin verglichen, das gleichfalls keinen heilenden Nutzen habe, für Diabetiker jedoch lebenswichtig sei.

Hoffnung auf eine Verbesserung der Symptomatik ohne permanente Medikamentengabe bietet augenblicklich nur eine Psychotherapie. Diese sollte, dort, wo es die Umstände erfordern, durch eine medikamentöse Behandlung begleitet werden. Im Rahmen einer Psychotherapie geht es darum, zusammen mit dem Kind und seiner Familie Verhältnisse herzustellen, die optimal dafür geeignet sind, Lernen und soziale Integration zu fördern. Das kann zum einen durch klar strukturierte Zuwendung, konsequenten doch liebevollen Erziehungsstil der Eltern, Erzieher, Lehrer und sonstigen erwachsenen Bezugspersonen erreicht werden. Zum anderen kann in der Therapie daran gearbeitet werden, die Konzentrationsspannen des Kindes zu verlängern und seine permanente Aufgeregtheit zu reduzieren, indem der Therapeut ihm Möglichkeiten zeigt, wie es seine eigenen Wünsche und Bedürfnisse durch Methoden der Selbststeuerung und sozial angemessene Formen der Durchsetzung von Interessen besser erreichen kann.

Hinweise für Pflegepersonen beim Umgang mit ADHS-Kindern

ADHS Kinder sind schwierig. Sie sind unruhig, halten sich nicht an Regeln, provozieren, erzeugen Chaos. Unternehmungen in einer Gruppe mit ADHS-Kindern sind doppelt anstrengend. Umso wichtiger ist, dass die betreuenden Personen sich immer wieder vor Augen halten, dass ADHS-Kinder nicht bösartig sind. Dies kann man in all der Hektik und all dem Chaos, das diese Kinder umgibt, allzu leicht vergessen. Für Betreuungspersonen ist es wichtig, ihre eigene Toleranz und Leidensfähigkeit nicht überzustrapazieren. Sie sollten störendes, aggressives und regelverletzendes Verhalten eines ADHS-Kindes frühzeitig unterbinden, noch bevor sie selbst ärgerlich geworden sind. Der eigene Ärger der Betreuungsperson macht es ihr schwieriger, rational und angemessen zu reagieren. Die Aggressivität und das chaotische Verhalten eines oder gar mehrerer ADHS-Kinder drohen auch die Betreuungspersonen zu beeinflussen.

In der Interaktion wechseln ADHS-Kinder oft ihren Fokus und ihre Haltung. Was jetzt gerade noch wichtig war, ist im nächsten Moment schon durch etwas neues verdrängt, das die volle Aufmerksamkeit und Beachtung verlangt. Zur Unterstützung der Entwicklung des Kindes können die Pflegepersonen den Aufmerksamkeitswechsel verlangsamen, indem sie ein vom Kind geäußertes Thema freundlich und ruhig aufrechterhalten und selbst weiterverfolgen, wenn das Kind schon beim nächsten oder übernächsten Thema angelangt ist. Das darf natürlich nicht den Charakter eines Kampfes annehmen. Vielmehr sollte man irgendwann wieder zum dann aktuellen Thema des Kindes aufschließen. Dort sollte man wieder verweilen und vielleicht die nächsten beiden Sprünge auslassen. Mit der Zeit wird sich der Themenwechsel mehr und mehr verlangsamen und ein tieferes Eindringen und Durchdringen eines Zusammenhanges wird möglich.

So schwer es auch oft fallen mag, ist der Schlüssel zum richtigen Umgang mit ihnen, Ruhe auszustrahlen.Wenn Interventionen nötig sind, gilt es freundliche Konsequenz zu zeigen und immer wieder Grenzen aufzuzeigen. Regeln sollten nicht nur formuliert, sondern schnell und konsequent durchgesetzt werden. Da die Kinder oft in kurzer Zeit sehr viele Regeln verletzen, ist es entscheidend, sich darüber klar zu werden, welche wichtig und welche weniger wichtig sind und sich dann zunächst auf die Durchsetzung der wichtigsten zu beschränken.

Es dauert lange, bis grundlegende Regeln von ADHS-Kindern wirklich verinner­licht sind und dann auch zuverlässig eingehalten werden. Erst wenn das geschehen ist, sollte man sich mit den weniger wichtigen Problemen beschäftigen. Dabei gilt es immer darauf zu achten, dass das Kind mit aggressiven und regelverletzenden Verhaltensweisen keinen Erfolg hat, der es in seinem Verhalten bestärken könnte. Wichtig ist vielmehr, dass die erwünschten, sozial angemessenen Verhaltensweisen belohnt und damit verstärkt werden. Auch der Erfolg dieser Erziehungshaltung vollzieht sich bei ADHS-Kindern viel langsamer und von mehr Widerstand begleitet als bei den meisten anderen Kindern.