25.1

25.1 Psychische Entwicklung bei Kindern und Jugendlichen – gesunde und gestörte Prozesse.

Als Erwachsene erleben wir, dass sich unsere Psyche auf der Beziehungsebene zwischen den beiden Polen Sympathie und Antipathie, Zuwendung und Abwendung bewegt. Menschen wenden sich sie interessierenden Situationen, Objekten und Personen zu oder empfinden sie als abstoßend und meiden sie. Als Kind erlebten wir diese Polarität des Psychischen auch, aber enger mit unseren primären Bedürfnissen verknüpft. Schlüssel zum Verständnis und damit zum Beziehungsaufbau zu Kindern und Jugendlichen ist die Rückerinnerung und das Wiedervorstellen dessen, wie ich war, als ich das jeweilige Alter erreicht hatte.

Für eine gesunde psychische Entwicklung ist neben grundlegenden biologischen Bedingungen vor allem die förderliche psychosoziale Umgebung von Bedeutung. Ihr kommt für die Psychotherapie und der damit zusammenhängenden Pflegeaufgabe auch bei der Heilung die größte Bedeutung zu. Denn jegliche Entwicklung zum Gesunden muss beim Aufbau von vertrauensvollen sozialen Beziehungen beginnen. Die soziale Beziehung, und damit Vertrauen, Einfühlungsvermögen (Empathie) und die Fähigkeit zur Gesellschaft, eine positive Lebenseinstellung herauszubilden, hat ihre Grundlage in den primären sozialen Bindungen, die innerhalb der Familie und zu den ersten Bezugspersonen aufgebaut werden. Zur Herausbildung einer ausgeglichenen Persönlichkeit gibt ein selbstachtendes, empathisches und unterstützendes Erziehungsverhalten den nötigen Freiraum und fördert Selbstbestimmung, positive Identifikation und Lern­motivation. An diesen Grundbedingungen muss ein förderliches Erziehungsverhalten anknüpfen.

In einem relativ breiten Konsens kann man als „gesund“ ein Erleben der Erziehung bezeichnen, das an der Entwicklung des Kindes orientiert die Übertragung grundlegender gesellschaftlicher Werte von der Elterngeneration auf die Kinder ermöglicht. In diesem Sinne sollte primäres Erziehungsverhalten gewährend und grenzsetzend, unterstützend und kritisch sein. Es integriert das Kind in die Gemeinschaft und führt zu ganzheitlicher psychischer und psychosomatischer Gesundheit (s. Kap. 25.2.2).

Erziehende und betreuende Personen sollten sich in das Lebensalter ihrer Kinder hineinversetzen und mit ihnen altersentsprechend umgehen. Sie sollten eindeutig und konsequent sein, ein Gleichgewicht zwischen Selbständigkeit und Einmischung/Fürsorglichkeit wie auch zwischen direktiven und  nicht direktiven Phasen ihres Erziehens anstreben. So können die Grundlagen für eine stabile Beziehungsfähigkeit und gesunde Entwicklung gelegt werden, die dann auch wieder eine gelingende Ablösung von den Erziehungspersonen in Richtung Selbständigkeit, Verantwortlichkeit und Gemeinschaftlichkeit einschließt. Anregungen zum kreativen Gestalten, Gemeinschaftsaktivitäten wie Sport und Musik sind für soziale Kompetenzen sehr förderlich. Mit der geschilderten lebensförderlichen Erziehungsweise steigt die Selbstwirksamkeitserwartung, aber auch der tatsächliche Einfluss auf die Umwelt. Es entsteht somit eine bessere Ausgangsposition zur Bewältigung der Umwelt.

Um den Schlüssel zum Verständnis von Kindern, also die Erinnerung an das eigene jeweilige Lebensalter mit dessen jeweiliger Art des Erlebens, zu aktualisieren, bietet die Entwicklungspsychologie differenzierte Unterstützung. Die Entwicklung des Menschen kann im Allgemeinen als Erweiterung seiner Fähigkeiten und damit seiner Selbstwirksamkeit angesehen werden. Erlangte Fähigkeiten regen weitere Entwicklungen an, während sie aufeinander aufbauen. Voraussetzungen gelingender Entwicklung sind die biologische Anlage sowie die soziale und die materielle Umwelt. Grundlegende Triebfedern der Entwicklung sind Handeln, Motivation und Lernen. Lernen basiert erstens auf der respondenten Konditionierung, dem Lernen durch Verstärker, zweitens auf der Nachahmung und drittens auf dem operanten Lernen (respondere = antworten; operare = handeln).

Respondente Konditionierung bezieht sich auf eine erlernte regelhafte Verbindung zwischen Reiz und Reaktion, die ähnlich automatisch werden kann wie ein angeborener Reflex. So kann z.B. das visuelle Wahrnehmen von leckeren Brötchen hinter der Schaufensterscheibe eines Bäckerladens den Betrachter bereits den Duft ahnen lassen. Verstärkungslernen funktioniert über das Bemerken angenehmer Konsequenzen; z.B. strampelt ein Säugling, um die am Bett angebrachten Glöckchen, deren Klang es mag, zum Klingen zu bringen. Lernen durch Nachahmung ist Modell-Lernen, Nachahmen eines Vorbildes. Voraussetzung dafür ist, dass das Modell Fähigkeiten und Eigenschaften besitzt, die dem nachahmenden Kind wertvoll erscheinen. Operantes Lernen ist Lernen, das auf der Aktivität, dem Handeln des Individuums basiert. Es setzt sich mit seiner Umwelt handelnd auseinander und lernt aus den Erfahrungen, die es dabei macht (Lernen nach dem Prinzip von Versuch und Irrtum). Eine Erweiterung des operanten Lernen ist es, sich Handlungen probeweise vorher vorzustellen, sich vor dem Tun ein Bild vom Wie und Was zu machen. Es geht über das Handeln nach der Versuch-und-Irrtummethode weit hinaus. Der Drang unmittelbar Handeln zu wollen, muss dann jedoch aufgehalten werden (Prinzip der Hemmung).

 

Wie oben bereits gesagt basiert die psychische Entwicklung im Säuglingsalter auf den Polaritäten Zuwendung und Abwendung. Im Vordergrund steht die gesamte sensomotorische Erfahrung der Welt, die Reaktion des Individuums durch Zuwendung und Abwendung auf emotionaler, kognitiver und motorischer Ebene, sichtbar durch Lautäußerungen, Mimik und körperliche Bewegungen.

Für die weitere psychische Entwicklung prädisponierend ist ein „stimmiges“ Verhältnis zwischen erfolgreichen Zuwendungshandlungen und gelungenen Abwendungshandlungen. Gelingt die Zuwendung auf der Ebene der ersten sozialen Bindungen zu Eltern, Geschwistern und/oder anderen wichtigen Bezugspersonen nicht, sind die Folgen für das weitere Leben massiv (s. Bowlby, 1969). Ebenso problematisch sind Erfahrungen von Säuglingen und Kleinkindern, sich nicht von aversiven Reizen, vor ängstigenden Objekten, gegen Hunger oder soziale Deprivation schützen zu können (z.B. durch Schreien, Fortkriechen, Herbeirufen der Mutter o.ä.).

Störungen und Abbrüche der ersten engen Beziehungen können Vertrauens- und Bindungsstörungen bewirken. Die Betroffenen sind kommunikativ oft nur äußerst schwer zu erreichen, haben oft Störungen der Impulskontrolle und können nur unzureichend Bedürfnisse aufschieben.

Nach Piaget (1974) beginnt sich die Welt des Kleinkindes im Alter von 1 1/2 bis 7 Jahren von sensorischen Einzelheiten zu Bedeutungen in Sprache und Bildern zusammenzuschließen. Über die zunehmende Beherrschung der Sprache und das nachahmende Spiel wird die Vorstellungstätigkeit und damit das präoperative, vorbegriffliche Denken in Bildern ausgebildet. Das 2-3 jährige Kind kann sich Gegenstände vorstellen, es behält sie im Gedächtnis, kann sie also repräsentieren, aber noch nicht durchgängig in eine richtige raum-zeitliche und kausale Beziehung bringen. Das können erst Kinder im Alter von 4-7 Jahren. Ist das Vertrauen in die eigene Repräsentationsfähigkeit gestört, kann das der Grund für Trennungs- und Versagensängste oder Depressivität sein. (Beispiel: Die im Nachbarzimmer lesende Mutter wird dann als verloren erlebt. Das Kind reagiert mit Weinen und versucht die Mutter wieder herbeizuholen.)

Moralische Werte und Normen bilden Kinder, so Piaget (1974), ca. ab dem 7. bis 11. Lebensjahr zusammen mit dem konkret-operationalen Denken aus, indem sie die Fähigkeit zur sozialen Perspektivenübernahme entwickeln. Hierauf baut das ab ca. 12 Jahren zur Verfügung stehende formal-operationale Denken auf, welches die bevorzugte Kommunikationsbasis des Erwachsenen ist. Auffälligerweise finden sich bei einer Reihe von psychopathologischen Störungsbildern wie Identitätsstörungen, Essstörungen und Schizophrenien deutliche Defizite in der Fähigkeit zur sozialen Perspektivenübernahme.